Egregantius

Tag: Denken

10 ausgewählte Notate aus den letzten Jahren (I)

[1] Was einmal bedacht wurde, kommt immer wieder zu einem zurück. Wenn es zurückkommt, kann es auch notiert werden. Danach erst geht es ans Schreiben. […] Wenn es wirklich gedacht wurde, wird es sich in dir festsetzen. Du wirst davon durchwirkt sein und du wirst wissen, dass du davon durchwirkt bist. […] Ich denke, dass der Anfang des Gedachten immer ein Stückweit Erinnerung ist. Aber der Prozess des Denkens selbst ist von einer faszinierenden Fluidität. (Für C. K. am 8.5.2015 und 10.5.2015)

[2] Man kann den Irrtum ja eigentlich nicht mehr weiter leben, wenn man ihn einmal erkannt hat. Doch viele könnten nicht weiterleben, wenn sie einen erkannten Irrtum akzeptieren müssten, der schon lange zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Existenz wurde. Deshalb müssen sie insgeheim an ihm leiden, sich an ihm aufreiben, ohne sich ihren Irrtum eingestehen zu wollen.

[3] Wer sich in einem Lehrer/Schüler-Verhältnis immer nur zu Wort meldet, gefällt sich in der Rolle eines vornehmen Schülers, der seinem Meister immer dann genüsslich ins Wort fällt, wenn dieser seine Stimme aus intrinsischer Motivation erhebt – und im eigentlichen Sinne das erlebt, was dem Schüler auf ewig verschlossen bleiben muss.

[4] Die Langeweile kann in einen ereignisreichen Zustand überführen, wenn man sich in ihr die gedankliche Bewegungsfreiheit zu eröffnen weiß. Denn wenn sich eben urplötzlich der Anknüpfungspunkt für einen weiterführenden Gedankengang aus der Langeweile heraus ergibt, der mit intrinsischem Eifer weiterverfolgt werden will, ist die Langeweile nicht länger haltbar, muss aufgegeben werden und weicht augenblicklich, um einer neuen Erkenntnismöglichkeit Platz machen zu können.

[5] Physische Bücher sind – unabhängig von ihrem Inhalt – auch Erinnerungsstücke. Sie erinnern an die besonderen Umstände des Erwerbs, gegebenenfalls den wohlmeinenden Schenker, vergangene gesellschaftliche Debatten, persönliche Lebenskrisen, entscheidende Wendepunkte oder Wegmarken. Sie helfen mitunter dabei, Erinnerungen sinnstiftend zu bewältigen, was ihnen den Vorzug vor elektronischen Büchern gibt.

[6] Wer einmal darauf achtet, wie der Speichel der Mundhöhle bei stabiler Schlafseitenlage in die Kehle stetig hinabtropft, oder an der Zunge abperlt, dem kann dieser Umstand schlaflosere Nächte bereiten, als ein tropfender Wasserhahn.

[7] Ich wunderte mich im Traum darüber, dass ein vorgestellter Gesprächspartner genau die Worte sprach, die ich in ebendiesem Moment (auch) dachte. Ähnlich empfindet wohl ein Ideologe, der eine mit anderen geteilte, gemeinsame Traumwelt auf die Realität überträgt und dadurch ein geradezu kindliches Vergnügen an gleichlautenden Vorstellungen und Gedanken empfindet.

[8] Wer legt bei geschriebenen Texten eigentlich noch Wert auf den gewählten Ausdruck? Der prinzipiell desinteressierte Leser jedenfalls nicht. So tippen die meisten modernen Autoren zwar munter vor sich hin, aber nur die Wenigsten verstehen noch etwas vom Handwerk des Schreibens. Dass fast alle Drucksachen mittlerweile umstandslos gedruckt werden, obwohl sie in den seltensten Fällen auch druckfertig sind, ist beklagenswert. Die meisten Bücher sind damit kaum mehr lesenswert. Zwischen den fehlerbehafteten Zeilen steht die abgehetzte Mußelosigkeit unserer Zeit, das tiefgreifende Nach- und Überdenken muss hierbei zwangsläufig zu kurz kommen. (siehe Steemit-Eintrag vom 13.2.2018)

[9] Für einen Philosophen ist es grausam, darum zu wissen, dass er eines Tages seinen Geist aufgeben muss. Und wofür hat er sich sein Leben lang eigentlich damit abgeplagt, etwas mehr von der Welt verstehen zu können, wenn es letzten Endes keine Rolle spielt, unter welchen geistlosen und sinnentleerten Voraussetzungen Menschen hier auf Erden ihr Dasein fristen? (siehe Steemit-Eintrag vom 31.12.2017)

[10] Weit abgeschlagen hatte ich mich vor mir selbst zurückgezogen. Und dennoch unternehme ich immer wieder den Versuch, mir auf den Grund zu gehen, obwohl es nicht ungefährlich ist, sich als Unbefugter den Zugang zum eigenen Ich verschaffen zu wollen.

Perhorreszierende Perzeptionen (XVI)

[1] Sie fanden etwas an ihm, weil er ihnen sagte, was allen fehlte.

[2] Beschränkt ist in meinen Augen, wer sich den Grundsatz ‚Es kann nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf‘ aneignet und davon ausgehend sein vorgefertigtes Weltbild reinzuhalten sucht.

[3] Religion ist für Viele auch nur der Glaube an das Nächstbeste.

[4] Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich das selbst denkend zu erarbeiten, was einen betreffen könnte. Dann macht es vielleicht sogar betroffen.

[5] Es ist fatal, die eigene Großmannssucht für ein besseres Bewusstsein zu halten.

[6] Am drängendsten ist wohl eher der Untatverdacht.

[7] Zitate in der Sekundärliteratur: nicht selten verdorbene Lesefrüchte.

[8] Klimawandel: Der Schnee von gestern wird urplötzlich zum heißen Eisen.

[9] Ein Gedanke, der sich lohnt, ist selten ein Gedanke, der sich auszahlt.
(Gedanken, die sich ausgezahlt haben, sind überbewertet.)

[10] Während der Bildungshunger zu keinem Zeitpunkt sättigt, vermittelt ein wohliger dogmatischer Schlummer den Anschein, bereits satt zu sein.

Perhorreszierende Perzeptionen (XIV)

[1] Jedem Anfang wohnt etwas Anfänglicheres inne, das sich zwangsläufig verfängt.

[2] Sollte man sich veraufgaben?

[3] In den kleinsten Taten liegt oft genug das größte Vertun.

[4] Wir haben genug gesehen. Das ist mithin ein Grund, warum wir uns nichts mehr ausmalen müssen.

[5] Das eigene Wohlergehen ist nur für denjenigen von Interesse, der nicht vom Weg abkommen, also auf der Strecke bleiben will.

[6] Wer vorausgehen will, muss wissen, was ihn alles angehen kann.

[7] Ein in die Tat umgesetzter Gedanke kann möglicherweise etwas ausrichten, doch was kann ein ausbleibender Gedanke alles anrichten?

[8] Nur der Aphorismus kann noch den Sand am Meer mit dem Mikroplastik in den Ozeanen aufwiegen.

[9] Was die Frage der Schätzung des Weisen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft angeht, waren sich die Weisen immer schon erstaunlich einig.

[10] Immer wieder die bange Frage: Wer hat mir noch etwas zu sagen, im Sinne von: Wer hat mir überhaupt noch etwas mitzugeben, was ich mir nicht schon selbst gedacht habe?

Perhorreszierende Perzeptionen (XII)

[1] Wie gewollt ist eigentlich unser Wollen?

[2] Man kann sein Kapital auch in ein großes Unvermögen verwandeln.

[3] Sobald ein Philosoph sein Denken lieben lernt, verlernt er es vollständig.

[4] Gehören unsere Träume uns, oder gehören wir unseren Träumen?

[5] Wer im Einklang mit sich ist, kann nicht so berauschend klingen.

[6] Es gibt kein wahres Lesen ohne Genesegenuss.

[7] Die Selbstgespräche von Taubstummen sind vermutlich am ergiebigsten.

[8] Wenn das Universum deterministisch ist, dann hat es alles für Nichts gegeben.

[9] Das Schicksal der meisten: So fertig mit der Welt zu leben, als hätten sie sich ausgelebt.

[10] Festzuhalten bleibt, dass festgehaltene Sätze fast immer unhaltbar werden.

Perhorreszierende Perzeptionen (VI)

[1] Was schwer zu sagen ist, wird lediglich benannt.

[2] Die Menschen sind sich nicht gleich, aber manche bleiben sich gleich und viele gleichen sich manchen an.

[3] Was ein anderer einsehen will, haben wir in einer Weise abzusehen, die es uns erlaubt, genauer hinzusehen.

[4] Traurig, aber wahr: Das Unverwechselbare dient Vielen nur zur nötigen Abwechslung.

[5] Im Grunde ist es nur sehr verständlich, dass vor allem die Unverständigen uns immer etwas zu sagen haben.

[6] Unerträgliche Kulturträger wollen immer gleich vom Zeitgeist getragen sein.

[7] Einige moderne Autoren erregen nur deshalb mediale Aufmerksamkeit, weil sie – vorsätzlich skandalisiert – in den Fokus der Öffentlichkeit gezerrt werden und die verbliebenen (vermuteten) Kulturinteressierten alsdann in der heißumkämpften Pro/Contra-Phase fieberhaft nach einer guten Ausrede zu suchen haben, um die so Gehypten unter keinen Umständen lesen zu müssen.

[8] Es gibt Autoren, die auf Gedeih und Verderb gelesen werden wollen. Die Autoren, die tatsächlich (noch) gelesen werden, liegen fast immer irgendwo begraben.

[9] Oft überblicken wir, was wir sehen wollen und bekommen einmal mehr unser altbekanntes alter ego zu Gesicht.

[10] Wer eigenständig denkt, kann sich vieles schenken und das Geschenkte später anderen mit auf den Weg geben, die es vielleicht nötig haben oder noch gut brauchen können.

Perhorreszierende Perzeptionen (III)

[1] Wenn man sich etwas zu Gemüte führt, sollte es auch mal ungemütlich werden dürfen.

[2] „Sozial ist, was Muße schafft.“ (Pereant qui ante nos nostra dixerunt.)

[3] Wer es sich in einer Philosophie bequem macht, wird sie verfehlen.

[4] Es steht zu vermuten, dass manche nur aus bequemlicher Unwissenheit unbequeme Wahrheiten vermuten wollen, um aus eitler Schwatzsucht unmaßgebliche Mutmaßungen anstellen zu können.

[5] Wer das eigenmächtige Denken wagt, wird nicht unverschont bleiben.

[6] Die Sorge des Philosophen ist mit, während und nach Erledigung seiner Besorgungen da.

[7] Ein kultivierter Mensch braucht andere zu seiner Unterhaltung nicht, weil er durch sich selbst zum Ereignis seines Lebens wird und damit bereits ein spannendes und spannungsreiches Leben hat.

[8] Wie kommt man eigentlich dazu, Mensch zu sein? Warum ist man gerade Mensch geworden und konnte im Hier und Jetzt nichts anderes werden?

[9] Wer versteht schon sein Verstehen? Nur die Unverständigen haben ihr Selbstverständnis.

[10] Wo alles längst vertan wurde, gibt es kein Vertun mehr.

Perhorreszierende Perzeptionen (II)

[1] Philosophen, seht euch vor!

[2] Die einen erwarten Dinge, die andere umstandslos zu gewärtigen haben.

[3] Ich fürchte, dass wir unaufgespürt dahinschwinden.

[4] Philosophen spüren genau den Dingen nach, die andere nicht mehr wahrhaben wollen.

[5] Das Unmögliche war und bleibt nie vollkommen unmöglich.

[6] Von Tag zu Tag verwirklicht sich Unwirkliches.

[7] Es existiert kein Satz, mit dem ein für alle Mal genug ausgesagt worden ist.

[8] Was zu denken ist, befindet sich unablässig im Aufbruch und wird niemals ausgedacht vorliegen können.

[9] Philosophen wollen einmal sehen, was keines Blickes mehr gewürdigt wird.

[10] Was fällt dir eigentlich ein?! Darauf darfst du gespannt sein.

Perhorreszierende Perzeptionen (I)

[1] Was sich überhaupt sagen lässt, ist nur schwer zu sagen.

[2] Die einen leben ihr Leben, andere führen ein Geistesleben.

[3] Wo kein Wille ist, gibt es nur ein auswegloses Ausharren.

[4] Zuerst kommt das Einsehen von Einsichten. Danach erst wird Einblick gewährt.

[5] Manche geben vor, das Ganze im Blick zu haben. Andere denken sich dazu ihren Teil.

[6] Die evolutionäre Entwicklung hat uns schließlich zu formvollendeten Konsumenten gemacht.

[7] Wer glaubt, was er denkt, glaubt auch nur, dass er denkt.

[8] Neoliberalismus: Alle verbrauchen sich, bis sie restlos aufgebraucht sind und entsorgt werden müssen.

[9] Wer konkrete Probleme hat, wird immer wieder gerne zum eigentlichen Problem erklärt.

[10] Was früher noch perzipiert wurde, wird heute massenweise konsumiert.

Garantierte Expektorationen (XXVIII)

[1] Es sollte wieder mehr grundlos verunsicherte Philosophen geben.

[2] Zu viel des Guten lässt Unvermögende schlecht werden.

[3] Wenn alle gut informiert sind, weiß kaum mehr jemand, was eigentlich los ist.

[4] Das Unmerkliche ist äußerst bemerkenswert.

[5] Zufriedengestellte Philosophen sind vollkommen unbrauchbar.

[6] Unbegründetes unterhöhlt allzu Offensichtliches, um nur den bloßen Anschein zu hinterlassen.

[7] Was die Wenigsten einsehen wollen, hat der Philosoph darzulegen, weil es in seinen Augen zu naheliegend ist.

[8] Denkende verfangen sich vor allen anderen in den Netzen, die sie auswerfen, um Eindrücke von ihren natürlichen Denkräumen zu gewinnen.

[9] Wenn sich das Denken in einem Menschen einmal Bahn gebrochen hat, wird er so schnell keine Ruhe mehr vor sich haben.

[10] Unkultur, die sich nicht mehr verorten lässt, wird allerorten sein.

Garantierte Expektorationen (XXV)

[1] Ein ordentlicher Lebenslauf wird auch nur vorzeitig fertigmachen.

[2] Die meisten Menschen wollen allem Anschein nach nur für den Arbeitsmarkt aufbereitet werden. Wenn sie als Lohnsklaven biologisch verwertbar gemacht wurden, sind sie bereits zufriedengestellt.

[3] Es gibt eine Ausschließlichkeit im Denken, die einen in Gesellschaft verstummen macht.

[4] Ein Denkender lässt sich nicht beschäftigen, sondern weiß sich zu beschäftigen, vor allem dann, wenn er nichts zu tun hat.

[5] Die Existenzgrundlage ist im Kern gelebte Aggression.

[6] Es sind Spaltprodukte des Denkens, die in letzter Konsequenz zum GAU führen können.

[7] Viele verstehen sich auf das Worte-Drechseln, auf den Wort-Wechsel verstehen sich nur wenige.

[8] Ich kann nur sagen, worum es mir geht, wenn meine Sprache es mir erlaubt.

[9] Die Programmvorschau im Fernsehen bietet meistens bereits einen abgeschmackten Vorgeschmack.

[10] Kunst lebt von Inbrunst.