Über die gegenwärtige Aufklärung

von Egregantius

Michael Richter hat in seiner im Jahre 2007 erschienenen kleinen, aber feinen Aphorismensammlung Wortschatz den folgenden Aphorismus geprägt:

„Die Jugend von heute ist abgeklärt, ehe sie aufgeklärt wurde.“

Dieser Aphorismus sitzt (zumindest bei jemandem, der sich davon angesprochen fühlt)! Doch warum eigentlich? Zunächst einmal lässt selbst ein vermeintlich abgeklärter und damit dünkelhafter jugendlicher Mensch im Zuge der Besinnung über diesen Aphorismus (sofern er sich denn darauf überhaupt einlassen will, eine gewisse intrinsische Neugierde ist jedenfalls vonnöten!) erst einmal diverse Lebenssituationen Revue passieren, die diese These entweder empirisch stützen oder angreifbar bis zur Verwerfung machen könnten. Nach einer solchen Reflexion könnte er möglicherweise zu der für ihn wichtigen Erkenntnis gelangt sein: „Ach ja, mein Kumpel ist auch so einer, der immer so abgeklärt tut und doch nix in der Birne hat: Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werf‘ ich ihm das Zitat mal um die Ohren!“
Vielleicht kommt er aber auch bei etwas tiefgründigerem Nachdenken auf die Idee, den eigenen Selbstbezug einmal zu hinterfragen und eine potenziell vorhandene eigene Dünkelhaftigkeit im schummrigen Lichte der Aufklärung zu beleuchten? Denn, wie wir alle zur Genüge wissen (und bis zum Erbrechen bereits gehört oder gelesen haben!), ist Aufklärung nach Kant bekanntlich „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“: Unmündigkeit in dieser Hinsicht bedeutet, dass man denkerisch in einer gewissen Abhängigkeit von auferlegten Normen, Dogmen und Ideologien anderer steht und sie hat damit zwangsläufig natürlich auch etwas mit dem eigenen Selbstbezug zu tun, der oft genug aus den unterschiedlichsten Gründen (Feigheit, Borniertheit, Verdrängung) zu wenig ausgeleuchtet wird. Wir sollten jedoch nicht den kategorischen Fehler begehen und uns bei Fragen der richtigen Aufklärung lediglich die Jugendlichen zur Brust nehmen, denn selbst Erwachsenen mangelt es oftmals am kritischen Hinterfragen ihrer zwar eigenen, aber nicht selbstgewählten, sondern antizipierten Lebensprinzipien, welches oftmals im betriebsamen Arbeitseifer des Alltagslebens ohnehin weder aufkommen kann, noch aufkommen soll: Schließlich reicht es ja vollkommen aus, wenn ein Mensch funktioniert und täglich pünktlich zur Arbeit kommt, die er mehr oder weniger automatisiert zur vollsten Zufriedenheit seines Vorgesetzten verrichten kann. Und was machen diese Menschen nach der Arbeit? Sie schalten ab, indem sie ein Gerät einschalten und sich Konsumgüter aller Art ad nauseam einverleiben. Millionen ist in solchen Momenten der Unaufgeklärtheit jedenfalls das blanke, künstlich erzeugte Flutlicht (das wir nicht nur von Fußballspielen kennen, sondern auch von großen Events, Fernsehshows, etc.!) wichtiger als die Aufklärung, wie es der Aphoristiker Gregor Brand in einem lesens- und bedenkenswerten Tweet auf den Punkt bringt.